Proletarier aller Länder, St. Petersburg 1995, Foto: Juliane Fürst CC BY-SA 3.0
Wohin soll es gehen?
Juliane Fürst
Dieses Bild stammt aus dem St. Petersburg von 1995 und damit aus meiner Erstbegegnung mit Russland, mit seiner sowjetischen Vergangenheit und mit meiner akademischen Zukunft. Ich lernte Russisch in einem ziemlich abgewrackten und vor allem winzigen Raum in der Leningrad State University. Vormittags war Unterricht. Nachmittags wanderte ich in der Stadt umher. Wenn ich mir meine Bilder von damals so anschaue, dann kann ich erkennen, dass ich vor allem ziemlich sauer war, dass ich die eigentliche Sowjetunion verpasst hatte.
Ich habe das nachgeholt, indem ich mich mit meiner Kamera auf die Blicke spezialisierte, die zeitlos waren. Ich fotografierte, wie es meinen intellektuellen Ansprüchen entsprach, in Schwarz-Weiß und kam mit einer Bildergalerie wieder, die auch aus den sechziger Jahren hätte sein können. Die Menschen in meinen Bildern sahen ebenfalls zeitlos aus – oder ich ließ sie einfach weg, wie in diesem Foto. Welche Ecke hier abgebildet ist, kann ich nicht mehr sagen. Es würde wohl selbst einem Einheimischen schwerfallen, dies zu tun. Alles in diesem Bild ist generisch: das sowjetische Emblem mit der Aufschrift „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“, das Zebrastreifenbild und das alte Wohnhaus im klassischen Stil der Stadt. In Farbe hätte das Bild nicht viel anders ausgeschaut.
Aber gerade deshalb ist es ein Symbol seiner Zeit. Die neunziger Jahre waren in einer gewissen Weise zeitlos – suspendiert zwischen zwei Epochen. Ein paar Jahre später war das Emblem mit Sicherheit eingeschmolzen, das Haus neu angestrichen und das Zebrastreifenschild modernisiert. Das Strichmännchen läuft ja schon fleißig vorneweg und aus dem Bild heraus. Die konstruktivistischen Linien der festen Strukturen des Bildes jedoch werden wohl noch genauso sein, wie ich sie vor fast dreißig Jahren festhielt.
Dr. habil. Juliane Fürst studierte Modern History in Oxford, Russian and Post-Soviet Studies an der London School of Economics. Zwischen 2003 und 2018 lehrte sie Geschichte an der University of Bristol, seit 2018 ist sie Leiterin der Abteilung I „Kommunismus und Gesellschaft“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.