Küche im Wohnheim, Leningrad 1990, Foto: Susanne Schattenberg CC BY-SA 3.0

Kohl im Wohnheim

Susanne Schattenberg

Studentenwohnheim, Straße der Schiffbauer / Ulitsa Korablestroitelej, Leningrad, Herbst 1990. Dies ist die typische Küche einer typischen Einheit in einem typischen spät-sowjetischen Studentenwohnheim, bestehend aus einem 2-Bett- und einem 3-Bett-Zimmer, WC, Bad und Vorflur.

Die große Küche für alle auf der Etage bestand aus drei unbenutzbaren Herden, bei denen alle Platten durch Überhitzung gesprengt waren. Also richteten sich die Studierenden mit viel Liebe zum Detail im Vorflur ihre eigene improvisierte Küche ein: klein, aber mein!

In einer Zeit, als meine Freundin einer Kommilitonin ohne mit der Wimper zu zucken 100 Rubel lieh, aber niemals ihr Bügeleisen, war es zudem wichtig, das wenige Hab und Gut vor fremdem Zugriff zu schützen. So hässlich von außen der Plattenbau, so heimelig sollte es innen sein. Wichtiges Detail hier: das Foto von Helmut Kohl. Als ich 1990 dreieinhalb Monate in diesem Wohnheim wohnte, war ich voller „Gorbi“-Begeisterung, die meine Nachbarin überhaupt nicht teilen konnte. Sie sagte: „Gebt uns Euren Kohl, wir geben Euch unseren Gorbatschow dafür!“

 

Prof. Dr. Susanne Schattenberg studierte Geschichte, Slawistik und Psychologie in Hamburg, Leningrad und Konstanz. Seit 2008 ist sie Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen.

Küche, St. Petersburg 1993, Foto: Franziska Schedewie ©

Kultureller Erkenntnisort Küche

Franziska Schedewie

1993 nahm ich als Studentin an meinem ersten dreiwöchigen Sprachkurs in St. Petersburg teil. Privatunterkünfte für Ausländer und Ausländerinnen waren noch nicht seit langer Zeit erlaubt. Unsere Gastfamilien waren über Zeitungsannoncen gefunden worden.

In der Küche auf diesem Photo fanden die ersten Annäherungen zwischen meiner chozjajka Ljudmila und mir statt, meine ersten radebrechenden Gesprächsversuche auf Russisch. Freude, wenn es gelang, mich in richtigen Worten zu artikulieren, und Unbehagen, wenn das Missverständnis nicht nur auf mangelnde Sprachkenntnis zurückzuführen war.

In dieser Küche wurden Hühnerbeine zum Braten in der Pfanne mit dem Bügeleisen beschwert und Pilze auf dürren Zweigen bei offener Gasflamme über Nacht getrocknet. Über die aufgestellten und aufgehängten Gebrauchsgegenstände, Bilder und Andenken, die zum Teil auf dem Foto zu sehen sind, konnte ich mir Ljudmilas Leben und Alltag jenseits dieser Wohnung und meiner kurzzeitig begrenzten Mitbewohnerschaft vorstellen.

Intuitiv vergleiche ich bis heute jeden Wohnungsgrundriss in älteren Häusern, ob er an diese erste Küche heranreicht. Dabei war mir die besondere kulturelle Bedeutung der sowjetischen Küche 1993 noch gar nicht bewusst.

 

PD Dr. Franziska Schedewie studierte Geschichte und Englisch in Heidelberg und Siena.Seit 2020 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Jena. Im gleichen Jahr wurde sie in das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen. Im Wintersemester 2020/21 vertritt sie den Lehrstuhl für Russland-Asien-Studien an der Universität München.