Frauen auf einem improvisierten Markt, Wolgograd 1990-91, Foto: Tanja Penter ©

Überleben in Zeiten des Wandels

Tanja Penter

Mangel und Bedürftigkeit zeigten sich uns 1990 in der ausgehenden Sowjetunion in unterschiedlichen Formen. „Defizit“ war eines der ersten Worte, das wir als Austauschstudierende lernten und dessen Bedeutung wir am eigenen Leibe erfuhren. Es bezeichnete den Mangel an bestimmten Lebensmitteln und Waren des täglichen Gebrauchs in den sowjetischen Läden. Kaufhäuser präsentierten ein sehr ausgedünntes Sortiment oder gänzlich leere Regale. Trotzdem bildeten sich lange Schlangen vor den Geschäften, allein auf das Gerücht hin, dass eine Warenlieferung bald eintreffen sollte. Stundenlanges Anstehen auf der Jagd nach begehrten Lebensmitteln prägte den Alltag vieler sowjetischer Familien.

Im Winter 1990/91 berichteten deutsche Zeitungen von Hunger und einer drohenden „sozialen Explosion“ in der Sowjetunion. Die Versorgung sei komplett zusammengebrochen, und die Tauschwirtschaft ersetze den Staatsmonopolismus. LKWs mit Lebensmitteln und Spenden wurden von Köln nach Wolgograd geschickt; wir halfen, die Hilfspakete an kinderreiche Familien zu verteilen.

Zu unserer Überraschung verfügte die Sowjetbevölkerung aber dennoch oft über Mittel und Wege, sich begehrte Waren über Schwarzmärkte oder private Beziehungen (svjazi) zu beschaffen, sodass trotz leerer Geschäfte, die privaten Kühlschränke gut gefüllt sein konnten. Zu den Bedürftigen zählten insbesondere Rentner:innen, die auf improvisierten Märkten oder einfach am Straßenrand ihre bescheidene Habe verkauften. Die Renten reichten kaum für die Deckung der minimalsten Versorgung mit Lebensmitteln. Schockierende Bilder von der Armut alter Menschen, die in Mülltonnen nach Nahrungsmitteln suchten, begegneten mir aber erst 1993 in der schwierigen Transformationszeit nach dem Ende der Sowjetunion.

 

Prof. Dr. Tanja Penter studierte Osteuropäische Geschichte, Germanistik, Mittlere und Neuere Geschichte, Slawistik in Köln und als DAAD-Austauschstudentin in Odessa und Wolgograd (1990-1991). Seit 2013 bekleidet sie die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.