Frauen am Finnischen Meerbusen, Leningrad 1989, Foto: Corinna Kuhr-Korolev CC BY-SA 3.0
Alles fließt …
Corinna Kuhr-Korolev
Juli 1989 am Strand des Finnischen Meerbusens nördlich von Leningrad. Einer der wenigen, ersehnten heißen Sommertage. Entschlossen nutzen die beiden Frauen den Tag zum Bräunen und zur Erholung. Als Vertreterinnen der älteren Generation steht ihnen der privilegierte Platz auf der sowjetischen Variante der Hollywood-Schaukel zu. Ohne Bademode lässt sich auskommen, ohne Verpflegung kaum.
Es ist eine der vielen russischen Alltagsszenen, die ich im Laufe der Jahre abgespeichert habe. „Wie leben die hier?“ – das ist eine der Fragen, die mich seitdem am meisten beschäftigt. Die trotzige Beharrung auf den schönen Momenten des Alltags fasziniert mich, die merkwürdige andere Ordnung der alltäglichen Dinge, die Unberechenbarkeit auf der einen und die Normierung des Lebens auf der anderen Seite.
Manchmal scheint alles geklärt, dann verflüchtigen sich Gewissheiten und Einsichten. „Alles fließt …“ (Titel einer erst in der Perestroika veröffentlichten Erzählung von Wassilij Grossman), aber vieles bleibt – dies ist die Einsicht drei Jahrzehnte später. Mein Interesse an der Geschichte und Gesellschaft Russlands ist nicht versiegt, aber es wechselt zwischen Resignation und immer wieder erwachender Neugier.
Dr. Corinna Kuhr-Korolev studierte Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Politik in Bonn, Köln und Moskau. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.