Museum Vadim Sidur, Moskau 1988, Foto: Klaus Gestwa ©

Skulpturen gegen das Vergessen

Klaus Gestwa

Das Foto ist im November 1988 aufgenommen, anlässlich der Eröffnung des Museums. Dort wurden erstmals Skulpturen und Zeichnungen des informellen Künstlers Vadim Sidur (1924-1986) dauerhaft ausgestellt, die auch heute noch im Moskauer Stadtteil Perovo zu bestaunen sind.

Im Herbst 1988 fand in der Sowjetunion eine Debatte um die Errichtung eines Mahnmals statt, das der Millionen Opfer des Stalinismus gedenken sollte. Dafür schien Sidurs Skulptur „Den Opfern der Gewalt“ besonders geeignet zu sein. Sie stand dank der Bemühungen einer Bürgerinitiative schon seit 1974 in der westdeutschen Stadt Kassel. Sidur, dessen jüdische Familie in der Ukraine von den NS-Besatzern ermordet worden war, hatte damals im westlichen Ausland Bekanntheit erlangt; in seiner Moskauer Heimat hingegen wurde er wegen seiner nonkonformen Kunst aus der Partei ausgeschlossen.

Mich beeindrucken vor allem die Werke Sidurs, mit denen er die sowjetischen Weltkriegssieger als Versehrte zeigt, die an Körper und Seele dauerhaft Schaden genommen hatten. Damit verarbeitete er seine eigene Schussverletzung, die 1944 seine rechte Gesichtshälfte verformt hatte. Ihm war es wichtig, dass hinter dem offiziellen Triumphnarrativ das individuelle menschliche Leid nicht in Vergessenheit geriet. Während der Perestroika traf er damit den Nerv der Zeit.

Meine Sicht auf die sowjetische Geschichte hat Sidurs Werk nachhaltig beeinflusst. Ich war darum erschüttert, als 2015 ultrarechte Schwachköpfe anlässlich der Moskauer Retrospektive „Skulpturen, die wir nicht sehen“ mehrere Exponate Sidurs mit der Begründung beschädigten, diese würden angeblich „Gefühle der Gläubigen“ verletzen. Dabei sind christliche Motive im Werk Sidurs selbstverständlich. Das Christus-Antlitz dient ihm dazu, das Leiden aufzuzeigen, das der Mensch dem Mitmenschen im „Zeitalter der Extreme“ zufügt, um so zugleich der Hoffnung auf ein humanes Miteinander Ausdruck zu verleihen. Sidur ging es darum, Verletzungen zu heilen und Zukunft zu gestalten.

 

Prof. Dr. Klaus Gestwa studierte Geschichte und Slawistik in Marburg, Norwich/GB (1986) und als DAAD-Stipendiat in Moskau und Leningrad (1988–90). Seit 2009 ist er Professor für Osteuropäische Geschichte und Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen