Blumenkiosk, Tallinn 1988, Foto: Carmen Scheide CC BY-SA 3.0

Tallinn: Der Westen im Osten

Carmen Scheide

Nach fünf Monaten in Moskau bin ich Ende Februar 1987 für ein paar Tage nach Tallinn gefahren. Meine damaligen Eindrücke habe ich in einem Tagebuch festgehalten:

„Tallinn – das hat nichts mehr mit Sowjetunion zu tun. Man kommt sich vor wie in der Schweiz der UdSSR. Die Stadt lädt zum Bummeln ein, wenn man Lust hat, geht man in ein gemütliches Kaffee, wo es sogar Platz gibt, man bedient wird und noch dazu himmlische Backwaren und guter Kaffee verkauft werden. Das gibt es in Moskau überhaupt nicht. Ich komme mir vor wie eine Provinzlerin, die plötzlich in Konsum erstickt. Das zentrale Kaufhaus bietet viel mehr, ist viel attraktiver gestaltet, als ich es je in Moskau gesehen habe. Vieles erinnert mich an den Westen! Mit Russisch kommt man in Tallinn kaum weiter. Estnisch ist angesagt, und das kann ich nun mal nicht.“

Wie damals üblich hatte ich als westliche Einzelreisende auch unsichtbare Begleiter, wie sich im Nachhinein herausstellte. Ich war in einem Hotel für westliche Ausländer untergebracht, zusammen mit einer finnischen Reisegruppe, die ausgiebig Alkohol konsumierte. Der Kiosk mit den Blumen war in den kalten Wintertagen ein erfreulicher Anblick, wobei die Preise für die ersten Narzissen und Tulpen mit einem Rubel oder mehr pro Stück relativ hoch waren. Meine Fahrkarte von Moskau nach Tallinn und zurück in einem Schlafwagen hatte 21.90 Rubel gekostet.

 

Dr. habil. Carmen Scheide studierte Osteuropäische, Neuere und Neueste Geschichte und Slawistik in München, Moskau und Freiburg i.Br. Seit 2016 ist sie Dozentin für Osteuropäische Geschichte in Bern.

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