Mann auf dem Vogelmarkt I, Moskau 1986, Foto: Karsten Brüggemann ©

Zerfurchte Gesichter

Karsten Brüggemann

Derartig zerfurchte Gesichter alter Männer kannte ich aus der Bundesrepublik nicht.

Sie saßen auf den Bänken im verschneiten Park, sie standen Schlange vorm Milchladen. Sie bestanden darauf, im überfüllten Trolleybus ihre Kopeken weiterzuleiten, um so an einen Fahrschein zu kommen, und sie saßen in den Museen als stumme Wächter der Kostbarkeiten.

Alte Männer, die im Krieg ihr Land gegen meine Großväter und Großonkel verteidigt hatten. Am Kanal Gribojedowa in Leningrad zeigte mir einer von ihnen die in seinen Arm eintätowierte Nummer. Und lächelte.

Nie hat mich dieser deutsche Krieg im Osten so betroffen gemacht wie in Leningrad. Was wusste ich 1981, was zwei Jahre später von der Blockade? Hatten wir das in der Schule durchgenommen? Nein.

Nie haben mich diese alten Männer spüren lassen, was sie damals von den Deutschen gedacht hatten. Stets überwog ihre Neugier, mit einem jungen Deutschen sprechen zu können. Stets machten sie es mir leicht, mit ihnen zu sprechen, so unbefangen es mit meinem Russisch damals nur ging.

Manche der alten Männer waren wortkarg, andere wiederum vermittelten mir wortgewaltig die Geschichte des Landes. Manche traf ich nur einmal, wie diesen Mann hier auf dem Vogelmarkt in Moskau, andere wiederum besuchte ich, wann immer es ging.

 

Prof. Dr. Karsten Brüggemann studierte Slawistik und Geschichte in Hamburg und Leningrad. Seit 2008 ist er Professor für Estnische und Allgemeine Geschichte an der Universität Tallinn.

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