Тридцать лет спустя:
Bilderinnerungen an die Perestroika

Einführung

Corinna Kuhr-Korolev und Katharina Kucher

Zugegeben handelt es sich bei dieser digitalen Fotoausstellung um ein nostalgisches Projekt. Kolleginnen und Kollegen, die sich mit der Geschichte des Russischen Reichs, der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten beschäftigen, haben auf unsere Bitte hin nach ihren persönlichen Fotografien aus der Zeit der Perestroika gesucht, uns eine Auswahl geschickt und zu einem Bild einen kleinen Text geschrieben. Viele von uns besuchten am Ende der 1980er, Beginn der 1990er Jahre zum ersten Mal für längere Zeit die Sowjetunion, um dort Russisch zu lernen, zu studieren oder nach Material in Archiven zu recherchieren. Für uns alle war dies eine prägende Zeit, die maßgeblich das Verständnis von unserem Forschungsgegenstand bestimmt hat. Insofern möchten wir mit diesem Vorhaben die Reflexion über die eigene Zeitzeug*innenschaft im Hinblick auf die historische Forschung zum (Post-)Sozialismus anstoßen.

Die politische Geschichte der Perestroika ist erzählt worden. Auch über die Frage, ob und warum die Sowjetunion zusammenbrechen musste, wurde viel diskutiert und geschrieben. Allmählich nähern wir uns aus historischer Sicht Themen, die bisher wenig Berücksichtigung fanden: sei es das Alltagsleben in unterschiedlichen Regionen des Landes; die biografischen Brüche, die viele Menschen infolge des Systemwechsels erlebten; die Veränderung der Wirtschaftsbeziehungen und des Verhältnisses von Stadt und Land; die Bedeutung von Migration und neu entstandener Grenzen, um nur einige zu nennen.

Erst jetzt werden Quellenbestände in Archiven zugänglich oder können unter zeithistorischen Gesichtspunkten neu befragt werden. Angesichts dessen ist das Nachdenken über die eigene Subjektivität hinsichtlich des Forschungsgegenstandes wichtig, über die Emotionalität, mit der wir uns an die damals in Wohnheimen und Küchen, in Bibliotheken und Archiven, auf Reisen und Ausflügen gemachten Erfahrungen erinnern. Der offizielle Erinnerungsdiskurs in den sowjetischen Nachfolgestaaten ist im Hinblick auf die Perestroika stark politisiert: In Russland gilt der Zusammenbruch des Imperiums als Jahrhundertkatastrophe, in den ehemaligen Sowjetrepubliken meist als Befreiung und nationaler Neuanfang.

Unter uns deutschen Osteuropaexpert*innen gibt es zwar keine einheitliche Beurteilung der Zeit des Wandels, aber es dominiert zweifellos ein positiver Blick auf die Perestroika. Bei der Anerkennung aller Mängel der Gorbatschow’schen Reformpolitik wird deren Notwendigkeit nicht bezweifelt und angenommen, dass es zum Ende der 1980er Jahre berechtigte Hoffnung auf positive Veränderungen gab. Diese Einschätzung ist teilweise sachlich begründet, sie beruht aber auch darauf, dass wir vor drei Jahrzehnten mitgerissen waren von der Aufbruchstimmung, fasziniert von einer fremden Alltagswelt, die sich vor unseren Augen veränderte, von den neuen Möglichkeiten, die sich unseren Freund*innen und Bekannten dort plötzlich boten und die wir selbst auch erfuhren.

Die Fotografien, die wir in die Ausstellung aufgenommen haben, spiegeln dies deutlich wider. Sie zeigen einen Ausschnitt aus der sowjetischen Lebenswirklichkeit. Vor allem aber dokumentieren sie, was wir dort damals gesehen haben und für wert hielten zu fotografieren, und belegen gleichzeitig Leerstellen, wie beispielsweise Innenräume. Die unübersehbare Abwesenheit des Interieurs lag sicherlich an den technischen Möglichkeiten – die meisten Amateurfotograf*innen hatten kein Blitzlicht zur Verfügung. Aber dazu kam noch etwas anderes: In erster Linie ging man nach draußen, um Land und Leute zu entdecken.

Stil und Themen ähneln sich oftmals. Es wiederholen sich Szenen und Motive, die uns offenbar aus deutscher Sicht zugleich ungewöhnlich und typisch sowjetisch vorkamen. Ohne dass es vermutlich den Fotografierenden bewusst war, zeigen die Bilder die Orientierung an einer Tradition der kritischen Sozialfotografie. Selfies waren noch nicht en vogue, eher verpönt.

Bei aller persönlicher Zurückhaltung lässt sich dennoch das strebsame Bemühen erkennen, den sowjetischen Alltag möglichst authentisch und originell abzubilden. Die Fotografien bilden insofern einerseits die Stereotype ab, mit denen wir uns damals der Sowjetunion und ihren Bürger*innen näherten. Genauso zeigen sie aber andererseits Neugierde, innere Anteilnahme und den ernsthaften Wunsch, die für uns damals fremde Welt zu verstehen. Dieser Antrieb verbindet alle, die dankenswerterweise ihre Fotografien und Gedanken mit uns geteilt haben. Er besteht fort und hilft, sich mit Elan und wissenschaftlicher Sorgfalt einer für das 20. Jahrhundert zentralen historischen Periode aufs Neue zu nähern. Nur mit gesichertem Wissen können wir der Tendenz entgegenwirken, dass die Epoche des Wandels als Kampffeld für populistische Debatten missbraucht wird.

Dieses Projekt entstand im Rahmen der gemeinsamen Veranstaltungsserie „Крах /Krach 1991“ von der DGO, der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen, vom ZZF Potsdam und IOS Regensburg. Medienpartner dieser Reihe ist zudem die Internetplattform Dekoder, deren gleichnamiges Erinnerungsprojekt in gedanklicher Kooperation entstand. Allen Mitwirkenden sei herzlich gedankt. Karsten Brüggemann, Reinhard Frötschner, Juliane Fürst, Klaus Gestwa, Guido Hausmann, Kristiane Janeke, Katharina Kucher, Corinna Kuhr-Korolev, Tanja Penter, Malte Rolf, Ina Ruck, Angela Rustemeyer, Wolfgang Sartor, Susanne Schattenberg, Franziska Schedewie, Carmen Scheide und Ingrid Schierle haben uns großzügig ihre Fotografien zur Verfügung gestellt. Lucia Ney, Nils Rasmus, Christopher Manns und Jakob Simonsmeier haben unsere Ideen in eine ansprechende Form gebracht und diese Ausstellungsseite programmiert. Wir freuen uns, dass mit Unterstützung von Christine Bartlitz (ZZF) die Schau ihren Platz auf der Plattform Visual History gefunden hat.

Und noch eine letzte Anmerkung. Die Ausstellung ist jetzt eröffnet. Sollte ein Besuch dieser Seite dazu anregen, nach eigenen Fotos zu suchen, freuen wir uns über weitere Einsendungen, die wir auch zu einem späteren Zeitpunkt noch online stellen können.

 

Dr. Corinna Kuhr-Korolev studierte Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Politik in Bonn, Köln und Moskau. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

PD Dr. Katharina Kucher studierte Slawistik und Geschichte in Konstanz und Moskau. Seit 2020 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg und verantwortliche Redakteurin der „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“.

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